Interkultur 

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Empfehlung
"Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule"
Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 25. Oktober 1996
Bekanntmachung des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur
vom 6. Mai 1997 - III 300 - 3277.18 - (NBI. MBWFK.Schl.-H. 1997 S. 271)

0. Vorbemerkung
In den vergangenen Jahren wurde im Bildungsbereich eine Fülle von Anregungen und Programmen entwickelt, wie auf die größer gewordene kulturelle Vielfalt in der Bundesrepublik .Deutschland angemessen reagiert und die heranwachsende Generation auf die Anforderungen einer erhöhten beruflichen Mobilität, der europäischen Integration und des Lebens in Einer Welt vorbereitet werden kann.
Neben anderen internationalen Gremien haben sich insbesondere die Europäische Union und der Europarat wiederholt für pädagogische Initiativen gegen Intoleranz und Diskriminierungen wegen rassischer, religiöser, kultureller, sozialer oder nationaler Unterschiede ausgesprochen. Die Kultusministerkonferenz selbst hat erstmals 1964 mit einem Beschluß zum "Unterricht für Kinder von Ausländern" auf den Mitte der 50er Jahre in den alten Ländern einsetzenden Zuzug sogenannter Gastarbeiterfamilien reagiert und für ausländische Kinder und Jugendliche neben der Schulpflichtregelung die Förderung der deutschen wie der jeweiligen Muttersprache in der Schule angeregt. 1971 (sowie in überarbeiteter Form 1976 und 1979) wurden Maßnahmen empfohlen, um den Kindern ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, die deutsche Sprache zu erlernen, die hiesigen Schulabschlüsse zu erreichen sowie die Kenntnisse in der Muttersprache zu erhalten. Mit dem Ziel, ein gegenseitiges Verständnis für die jeweilige Lebenssituation von Zugewanderten und Einheimischen zu fördern, regte die Kultusministerkonferenz 1985 ("Kultur und ausländische Mitbürger") einen vorurteilsfreien Dialog über kulturelle Werte und Interessen an. Durch die Zunahme gewalttätiger Ausschreitungen gegen Ausländerinnen, Ausländer und Minderheiten sah sich die Kultusministerkonferenz 1992 veranlaßt, in einer "Erklärung zu Toleranz und Solidarität" die Achtung vor anderen Kulturen und die Verantwortung für die Eine Welt einzufordern und für ein verständnisvolles Miteinander zu plädieren.
Die Kultusministerkonferenz hält es nunmehr für geboten, die vielfältigen interkulturellen Ansätze zu bündeln und auf der Basis vorhandener Erfahrungen und Konzepte Möglichkeiten und Erfordernisse einer interkulturellen Bildung zu akzentuieren.
Die Kultusministerkonferenz hat bereits in verschiedenen Entschließungen interkulturelle Aspekte betont:
- Der 1978 gefaßte und 1990 erneuerte Beschluß Europa im Unterricht" zielt darauf, die europäische "
Dimension im Bildungswesen zu fördern - unter anderem durch die Bereitschaft zur Verständigung, zum Abbau von Vorurteilen und zur kulturübergreifenden Aufgeschlossenheit.
- Die "Überlegungen zu einem Grundkonzept für den Fremdsprachenunterricht" (1994) zeigen Möglichkeiten der Schule auf, die Heranwachsenden durch einen veränderten Sprachunterricht auf die vielfältige europäische Gesellschaft vorzubereiten - unter anderem durch die Herausbildung der Fähigkeit, die Sicht des Partners und der Partnerin in der Fremdsprache zu verstehen und zu achten.

1. Ausgangslage
Das ausgehende 20. Jahrhundert ist von einer zunehmenden Internationalisierung geprägt; ökonomische und ökologische, politische und soziale Entwicklungen vollziehen sich in hohem Maße in weltweiten Bezügen. Lösungen für Schlüsselprobleme erscheinen nur noch im Bewußtsein Einer Welt tragfähig; so ist zum Beispiel unbestritten, daß eine weitere Zerstörung unseres Planeten nur noch durch gemeinsame Anstrengungen aller Menschen aufzuhalten ist.
Die weltweite Vernetzung spiegelt sich in veränderten Wahrnehmungen der Menschen: Ereignisse aus entfernten Regionen werden von den Medien täglich und unmittelbar präsentiert, moderne Kommunikations- und Verkehrsnetze ermöglichen weltweite Kontakte und Verbindungen, durch persönliche und berufliche Mobilität werden staatliche und kulturelle Grenzen überschritten.
Die internationale Verflechtung hat auch den Erlebnis- und Erfahrungshorizont Jugendlicher globalisiert und zur Ausprägung einer internationalen Jugendkultur beigetragen, in der individuelle Unterschiede in weltumspannenden Orientierungen und Konsumgewohnheiten eingeebnet erscheinen. Neben diesen Interessenähnlichkeiten existieren aber Unterschiede in den Alltagserfahrungen Jugendlicher, die von ihrer unmittelbaren Lebenswelt, durch Sprache, Sozialisation, soziale Einbindung und weltanschauliche Orientierung geprägt sind. Differenzierte Kenntnis und Akzeptanz anderer Lebensweisen und kultureller Identitäten kann auch bei Jugendlichen nicht vorausgesetzt werden; darum finden sich bei ihnen vielfach ähnliche Voreingenommenheiten wie bei Erwachsenen wieder. Davon bleibt auch die Schule nicht unberührt.
Die wirtschaftlichen, demographischen und sozialen' Unterschiede zwischen Nord und Süd, West und Ost, die Hoffnung auf sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg, ein internationales Arbeitsplatzangebot, aber auch politische oder religiöse Unterdrückung, Kriege und ökologische Katastrophen haben vielfältige Wanderungsbewegungen ausgelöst, von denen alle Kontinente betroffen sind. Dadurch sind Gesellschaften entstanden, die weder in sprachlicher noch nationaler oder ethnischer Hinsicht homogen sind.
Wo sich Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschauung begegnen, wo sie zusammen leben oder sich auseinandersetzen, verändern und entwickeln sich Weltbilder und Wertsysteme: Kulturen bilden ein sich veränderndes Ensemble von Orientierungs- und Deutungsmustern, mit denen Individuen ihre Lebenswelt gestalten. Moderne Gesellschaften sind daher auch in kultureller Hinsicht komplex und pluralistisch.
In Geschichte und Gegenwart haben Menschen fremder Herkunft auch in Deutschland die kulturelle Entwicklung beeinflußt. Viele von den in den vergangenen Jahrzehnten zugezogenen Migrantinnen und Migranten wollen auf Dauer bleiben und als Mitbürgerinnen und Mitbürger mit allen Rechten und Pflichten in Deutschland leben. Im Alltag prägen die zugewanderten Menschen die hiesige Gesellschaft, in der kulturelle Vielfalt zur Realität geworden ist.
Bestehende Verunsicherungen können durch Fremdheitserfahrungen verstärkt werden: Konflikte um die Verteilung von Gütern, Angst vor sozialer Konkurrenz und dem Verlust der eigenen kulturellen Identität, nationalistische Einstellungen und rassistische Vorurteile sind vor allem in Krisensituationen der Nährboden für offene und verdeckte Aggressionen gegen Minderheiten und rassistisch motivierte Anschläge.
Auf den Zuzug von Menschen unterschiedlicher Herkunft nach Deutschland waren viele Bereiche der Gesellschaft nicht vorbereitet; auch die Pädagogik - Praxis wie Wissenschaft - konnte nur allmählich reagieren. Wenngleich die Schulverwaltungen der Länder inzwischen der kulturellen Vielfalt mit differenzierten schulischen Maßnahmen Rechnung getragen und darüber hinaus die Beschäftigung mit anderen Kulturen im Unterricht und im übrigem Schulleben gefördert haben, ergeben sich zusätzliche Aufgaben für die Bildung und Erziehung in der Schule.
Die vorliegende Empfehlung will einen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgaben leisten. Sie geht von einer gemeinsamen interkulturellen Bildung und Erziehung aller Schülerinnen und Schüler aus, richtet sich also sowohl an die Angehörigen der Majorität als auch an diejenigen der Minorität und zielt auf ein konstruktives Miteinander. Sie ist nicht als starres Konzept konzipiert, sondern als Orientierungsrahmen, der ein gemeinsames Vorgehen der Länder fördern soll und von ihnen nach den jeweiligen Möglichkeiten ausgefüllt wird.

2. Ziele
Die Achtung der Würde des Menschen und die Wahrung der Grundrechte sind Verfassungsnormen, die in den Schulgesetzen der Länder konkretisiert sind. Der dort formulierte Bildungsauftrag geht davon aus, daß alle Menschen gleichwertig und daß ihre Wertvorstellungen und kulturellen Orientierungen zu achten sind.
Interkulturelle Bildung wird also zunächst in der gewissenhaften Wahrnehmung des allgemeinen Erziehungsauftrags der Schule verwirklicht. Er fordert bei allen Schülerinnen und Schülern die Entwicklung von Einstellungen und Verhaltensweisen, die dem ethischen Grundsatz der Humanität und den Prinzipien von Freiheit und Verantwortung, von Solidarität und Völkerverständigung, von Demokratie und Toleranz verpflichtet sind.
Auf dieser Grundlage sollen die Schülerinnen und Schüler
- sich ihrer jeweiligen kulturellen Sozialisation und Lebenszusammenhänge bewußt werden;
- über andere Kulturen Kenntnisse erwerben;
- Neugier, Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen entwickeln;
- anderen kulturellen Lebensformen und -orientierungen begegnen und sich mit ihnen auseinandersetzen und dabei Ängste eingestehen und Spannungen aushalten;
- Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdem wahr und ernst nehmen;
- das Anderssein der anderen respektieren;
- den eigenen Standpunkt reflektieren, kritisch prüfen und Verständnis für andere Standpunkte entwickeln ; - Konsens über gemeinsame Grundlagen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft beziehungsweise in einem Staat finden;
- Konflikte, die aufgrund unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeit entstehen, friedlich austragen und durch gemeinsam vereinbarte Regeln beilegen können.
In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung. Die durch Perspektivwechsel erlangte Wahrnehmung der Differenz im Spiegel des anderen fördert die Herausbildung einer stabilen Ich-Identität und trägt zur gesellschaftlichen Integration bei. Eine auf dieser Grundlage gewonnene Toleranz akzeptiert auch lebensweltliche Orientierungen, die mit den eigenen unvereinbar erscheinen, sofern sie Menschenwürde und -rechte sowie demokratische Grundregeln achten'.
Die Schule allein ist mit der Lösung des gesellschaftlichen Anspruchs, gleichberechtigtes Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheit zu gewährleisten, überfordert. Sie kann allerdings dazu beitragen, daß Minderheiten vor Ausgrenzungen geschützt werden und kulturelle Vielfalt als Bereicherung und wünschenswerte Herausforderung empfunden wird.
Eine so verstandene interkulturelle Kompetenz ist eine Schlüsselqualifikation für alle Kinder und Jugendlichen, für Minderheiten und Mehrheiten; sie trägt zur privaten und beruflichen Lebensplanung bei und hilft, die Lebenschancen der nachfolgenden Generationen zu sichern.

3. Umsetzung
Wie alle Ziele der allgemeinen Persönlichkeitsbildung in der Schule ist auch die interkulturelle Bildung und Erziehung auf die Entwicklung von Einstellungen und Verhaltensweisen gerichtet. Die Schule vermittelt dazu Kenntnisse, entwickelt Einsichten, trägt zur Urteilsbildung bei und fördert wertorientiertes Handeln, indem sie die ihr zugänglichen Lern-, Lebens- und Erfahrungsräume aktiviert und durch erzieherische Bemühungen zur Persönlichkeitsbildung beiträgt. Der interkulturelle Aspekt ist dabei nicht in einzelnen Themen, Fächern oder Projekten zu isolieren, sondern eine Ouerschnittsaufgabe in der Schule.
Zur interkulturellen Erziehung müssen Lehrerinnen und Lehrer befähigt werden, damit sie in ihrer pädagogischen Arbeit Raum für unterschiedliche Sichtweisen und Sichtwechsel geben können. Dies ist um so wichtiger, als die Unterrichtenden zum größten Teil der Mehrheitsgesellschaft angehören und aufgrund ihrer Sozialisation und Ausbildung in der Gefahr stehen, ihre Sichtweisen als die normalen, selbstverständlichen weiterzugeben.
3.1 Pädagogische Grundsätze
Emotionalen Erlebnissen und Erfahrungen kommt bei der Ausprägung von Einstellungen und Umgangsformen eine grundlegende Bedeutung zu. Insofern kann sich interkulturelle Kompetenz nur in einem Schulklima entwickeln, das von Sozialbeziehungen und Denkhaltungen gegenseitigen Respekts geprägt ist.
Die Lehrerinnen und Lehrer haben auch beim Umgang mit dem Fremdem und den Fremden im unterrichtlichen wie außerunterrichtlichen Geschehen eine Vorbildfunktion. Insbesondere müssen ausländische und deutsche Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise Wertschätzung, Vertrauen und Zuwendung erleben.
In Schulgemeinschaften mit Schülerinnen und Schülern verschiedener kultureller Herkunft kann das interkulturelle Spannungsverhältnis in besonderer Weise fruchtbar gemacht werden, weil kulturell bedingte Unterschiede und Gemeinsamkeiten unmittelbar erkannt und erfahren werden. Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft kennen nicht von vornherein ihre Herkunftskultur; ihre Orientierungen und Handlungen vvurzeln eher in bikulturellen Erfahrungen.
Alle Schülerinnen und Schüler sollten an der Entwicklung einer gemeinsamen Schulkultur beteiligt sein und einvernehmlich Regeln des Zusammenlebens finden, deren Richtschnur die gegenseitige Achtung ist.
In der Zusammenarbeit mit Eltern ausländischer Herkunft ist zu beachten, daß diese möglicherweise aus kulturellen Kontexten stammen, in denen Erziehungsvorstellungen und Mitbestimmung in schulischen Angelegenheiten anders ausgelegt werden. Im offenen Gedankenaustausch über Ziele und Maßnahmen erzieherischer Bemühungen, aber auch über mögliche Konflikte werden die Entscheidungsgrundlagen am ehesten transparent. Durch Elternbesuche der Lehrkräfte auf der einen und durch Einbeziehung der Eltern in das Schulleben auf der anderen Seite kann das beiderseits notwendige Vertrauen gebildet werden.
In Konfliktsituationen, die nicht zuletzt aus der auf beiden Seiten empfundenen Andersartigkeit und Fremdheit entstehen können und durch unterschiedliche kulturelle Identitäten und Deutungsmuster belastet sind, sollen über eine Sachklärung hinaus Motive und Einstellungen, Ängste und Wünsche offengelegt und einbezogen werden. Eine gemeinsame Konfliktregelung erfordert von allen Beteiligten das Bemühen, den eigenen Standpunkt aus der Sicht des oder der anderen zu betrachten.
3.2 Inhaltliche Schwerpunkte des Unterrichts
Zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen sind Kenntnisse und Einsichten über die identitätsbildenden Traditionslinien und Grundmuster der eigenen wie fremder Kulturen eine notwendige Grundlage; Mutmaßungen und Vorurteilen kann nur mit differenzierter Wahrnehmung, reflektierter Klärung und selbstkritischer Beurteilung begegnet werden. Dabei geht es weniger um eine Ausweitung des Stoffs als vielmehr um eine interkulturelle Akzentuierung der bestehenden Inhalte.
Im einzelnen erscheinen folgende thematische Aspekte bedeutsam, um exemplarisch kulturelle, religiöse und ethnische Hintergründe und Beziehungen sowie Bedingungen des Zusammenlebens in kultureller Vielfalt kennenzulernen:
- Wesentliche Merkmale und Entwicklungen eigener und fremder Kulturen
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kulturen und ihre gegenseitige Beeinflussung
- Menschenrechte in universaler Gültigkeit und die Frage ihrer kulturellen Bedingtheit
- Entstehung und Bedeutung von Vorurteilen
- Ursachen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
- Hintergründe und Folgen naturräumlicher, wirtschaftlicher, sozialer und demographische Ungleichheiten
- Ursachen und Wirkungen von Migrationsbewegungen in Gegenwart und Vergangenheit
- Internationale Bemühungen zur Regelung religiöser, ethnischer und politischer Konflikte
- Möglichkeiten des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten in multikulturellen Gesellschaften.
3.3 Didaktische und methodische Hinweise
Wie andere übergreifende Erziehungsanliegen erfordert auch interkulturelle Bildung und Erziehung Lernformen, die die Komplexität der zur Diskussion stehenden Sachverhalte und Empfindungen verdeutlichen und die Wahrnehmung von Zusammenhängen, Wechselwirkungen und eigener Verantwortung fördern. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Selbstreflexion, der kritischen Beobachtung des eigenen Standpunktes und des eigenen Handelns zu.
Interkulturelle Bildung und Erziehung folgt daher den didaktischen Prinzipien des fächervernetzenden, problemorientierten und handelnden Lernens. Projektunterricht, die Öffnung der Schule, die Einbeziehung der Lebenswirklichkeit und der Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler sind unverzichtbare Vorgehensweisen, um Eigeninitiative, Eigenaktivität und Eigenverantwortung anzuregen und zu fördern.
Dafür sind Lernsituationen bedeutsam, in welchen Einstellungen und Überzeugungen offenbar, die zugrunde liegenden Wertvorstellungen geklärt und nach sozialethischen Gesichtspunkten beurteilt werden können. Dabei ist es notwendig, die Inhalte der Fächer dementsprechend zu akzentuieren. Insbesondere die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer können thematisch und methodisch einen vielfältigen Beitrag zur interkulturellen Bildung und Erziehung leisten. Dabei sind es beispielsweise - im Geschichtsunterricht weltgeschichtliche Querschnitte und Quellen, die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven verdeutlichen;
- im Erdkundeunterricht Untersuchungen zur Raumwirksamkeit kulturbedingter Strukturen;
- im Gemeinschafts- oder Sozialkundeunterricht die Analyse unterschiedlicher Lösungsansätze für aktuelle politische oder soziale Konflikte und deren (auch) kultureller Bedingtheit;
- im Religions- oder Ethikunterricht die Beschäftigung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Weltreligionen.
Ansatzpunkte für die genannten interkulturellen Aspekte sind aber nicht auf den gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereich beschränkt; in allen Fächern besteht die Möglichkeit, die Inhalte interkulturell zu akzentuieren:
- In Deutsch durch vergleichende Textarbeit, die den Wechsel der Perspektive unterstützt, die Verbreitung weltweit gültiger Erzählkerne untersucht und Erlebnisse sowie Erfahrungen mit Glück und Gerechtigkeit, Liebe und Leid deutlich werden läßt.
- Im Fremdsprachenunterricht - nicht nur bei frühem Fremdsprachenlernen und durch bilinguale Angebote - wird die Begegnung mit den Sichtweisen anderer Kulturen über sprachliche Ausdrucksformen vermittelt und ermöglicht so auch den Zugang zu einer Außenperspektive auf das vertraute und für selbstverständlich gehaltene Eigene.
- Für zweisprachige Schülerinnen und Schüler trägt die Muttersprachenkompetenz in erheblichem Maße zur Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung bei. Das Angebot in den Herkunftssprachen orientiert sich methodisch-didaktisch an der Lebenswirklichkeit der hier lebenden Kinder und Jugendlichen und räumt monokulturellen, -nationalen oder -ethnischen Inhalten keinen Platz ein. Eine Abstimmung mit den übrigen Fachcurricula und ein Höchstmaß an Kooperation unter den beteiligten Lehrkräften sind anzustreben. Organisatorisch sollte dieser Sprachunterricht nach Möglichkeit - soweit hierfür die Voraussetzungen gegeben sind - stärker mit dem Regelunterricht verzahnt werden: zum Beispiel durch Einbindung in die reguläre Schulzeit und die Möglichkeit der Teilnahme auch für andere Schülerinnen und Schüler. Ziel muß es auch sein, die Mehrsprachigkeit zu erhalten beziehungsweise zu schaffen.
- Die in vielen Klassen vorhandene Mehrsprachigkeit ermöglicht eine bewußte pädagogische Gestaltung des Unterrichts: Spielerische Annäherung an Fremdsprachen und mehrsprachige Beschriftungen in der Grundschule, Erstellung von Wörterbüchern für Fachbegriffe in der Sekundarstufe sind beispielhafte Anregungen für einen positiven Umgang mit sprachlicher Vielfalt.
- Der musisch-künstlerische Unterricht bietet eine nonverbale Ebene, sich Vertrautem und Fremdem zu nähern, unterschiedliche Erfahrungen, Deutungen und Ausdrucksformen wahrzunehmen, andersartige Einsichten zu gewinnen und die darin enthaltenen Spannungsmomente auszuhalten.
- Im Mathematikunterricht kann die Vielfalt kultureller Wurzeln der eigenen Rechenkultur veranschaulicht, die Zahlensymbolik als Ausdruck bestimmter Weltdeutung behandelt oder bei Beispielaufgaben kulturelle Vielfalt repräsentiert werden.
- Der naturwissenschaftliche Unterricht bietet die Möglichkeit, wissenschaftlich-technische Erkenntnisse, Entwicklungen und Visionen auf ihre kulturspezifischen Bedingungszusammenhänge hin zu überprüfen.
- Im Arbeitslehreunterricht beziehungsweise bei Unterrichtsthemen zur Berufs- und Arbeitswelt sowie der schulischen Berufsberatung können Schülerinnen und Schüler auf beruflich bedingte, grenzüberschreitende Ortswechsel vorbereitet werden, bei denen sie sich auch ohne umfassende Sprachkenntnisse zurechtfinden können.
Interkulturelle Zusammenhänge können aus der isolierten Sicht einzelner Fächer allerdings nur unvollständig erarbeitet werden; das fächerübergreifende Anliegen interkultureller Bildung wird in der fächerverbindenden Abstimmung und Kooperation verwirklicht, durch die Bezüge hergestellt, Zusammenhänge und Wechselwirkungen bewußt gemacht werden. Das erfordert ein hohes Maß an Kooperation und Koordination in der Schule.
Möglichen Vorurteilen und Ängsten wird am wirkungsvollsten zum Beispiel in Gemeinschaftsarbeiten und Projekten, in Simulationen und Rollenspielen begegnet; in ihnen können Erkenntnisse praktisch erprobt und Erfahrungen beispielhaft gewonnen und aufgearbeitet werden, lassen sich interkulturelle Konflikte im gemeinsamen Handlungsfeld bewältigen. Das sozial- und praxisorientierte Lernen bedarf einer besonders sorgfältigen didaktisch-methodischen Vorbereitung und sensiblen Umsetzung: Zu berücksichtigen sind insbesondere die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, zu vermeiden sind punktueller Aktionismus oder die Erzeugung von Mitleidseffekten.
Auch außerschulische Kontakte und persönliche Begegnungen zwischen Menschen aus verschiedenen lebensweltlichen Bezügen können zur Verringerung von Vorurteilen, zu offenen Haltungen und gegenseitigem Respekt beitragen:
- Im Umfeld jeder Schule finden sich Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen fremder Herkunft, denen sich die Schule öffnen kann.
- Für Schüleraustausch und Schulpartnerschaften, für Klassen- und Studienfahrten sowie internationale Betriebspraktika bietet die interkulturelle Perspektive fruchtbare didaktische Orientierungen; als notwendige Voraussetzungen gelten gemeinsame Zielsetzungen und kooperative Tätigkeiten, Raum und Zeit für individuelles Erleben und persönliche Bekanntschaften.
Bei interkulturellen Projekten und Begegnungen kann eine nachhaltige Wirkung aber nur erwartet werden, wenn sie in das übrige didaktisch-methodische Konzept der Schule integriert sind und keine Ausnahme darstellen.

4. Empfehlungen für die Weiterentwicklung
Im Rahmen der formulierten Ziele und Inhalte versteht sich interkulturelle Bildung und Erziehung als ein entwicklungsfähiges Konzept. Impulse erscheinen unter Berücksichtigung der finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten der Länder in folgenden Bereichen von Bedeutung:
- Überprüfung und Weiterentwicklung der Lehrpläne und Rahmenrichtlinien aller Fächer sowie der schulart- beziehungsweise schulstufenbezogenen Vorgaben unter dem Aspekt eines interkulturellen Perspektivwechsels.
- Erarbeitung von unterrichtspraktischen Handreichungen, in denen interkulturelle Aspekte als integraler Bestandteil von Schule und Unterricht konkretisiert werden.
- Zulassung beziehungsweise Genehmigung von Schulbüchern unter dem Gesichtspunkt, daß Gesellschaften und Kulturen weder marginalisiert noch abgewertet werden. In Text und Bild sollten auch nichtdeutschen Schülerinnen und Schülern Identifikationsmöglichkeiten gegeben werden.
- Intensive Weiterarbeit an dem von der Kultusministerkonferenz verfolgten Grundkonzept für den Fremdsprachenunterricht, insbesondere hinsichtlich der Förderung der sprachlichen Vielfalt durch Diversifizierung der Fremdsprachenangebote und durch bilingualen Unterricht.
- Sofern der muttersprachliche Unterricht in der Verantwortung der diplomatischen oder konsularischen Vertretungen der Herkunftsstaaten liegt: Förderung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit im Sinne dieser Empfehlung zwischen den beteiligten deutschen Schulen und den Institutionen der Herkunftsstaaten.
- Erleichterung der Beschäftigung nichtdeutscher Lehrkräfte in allen Unterrichtsfächern und Intensivierung der Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer des muttersprachlichen Unterrichts mit den übrigen Lehrkräften.
- Evaluation von laufenden und Initiierung von neuen Pilotvorhaben und Modellprojekten.
- Verbesserung der Rahmenbedingungen für Schulpartnerschaften und Schüleraustauschprogramme; Förderung und Verstärkung des internationalen Austausches von Lehrkräften.
- Unterstützung multilateraler Projekte und internationaler Netzwerke von Schulen.
- Nutzung vorhandener Beratungsstrukturen.
- Intensivierung der Zusammenarbeit mit sozialpädagogischen Fachkräften, Einrichtungen der Jugendarbeit, soziokulturellen Initiativen und Ausländerbeiräten.
- Angebote interkultureller Bildung an Hochschulen als integraler Bestandteil der Lehrerausbildung; Zusatzstudiengänge zur Didaktik der Herkunftssprachen in anderssprachiger Umgebung.
- Einbindung des interkulturellen Aspekts in die zweite Phase der Lehrerausbildung und in die Lehrerfortbildung, unter anderem durch eine Verstärkung schulnaher und schulinterner Fortbildung.


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Paragraf – Schulrecht für Schleswig-Holstein